TRIAGE REGELN VERFASSUNGSWIDRIG
Was uns die Entscheidung des BVerfG sagt.
Karlsruhe kassiert Triage-Regeln der Ampel – Verfassungswidrig wegen fehlender Kompetenz
Das Bundesverfassungsgericht hat die Triage-Regelung im Infektionsschutzgesetz (§ 5c IfSG) für nichtig erklärt. Der am 4. November 2025 veröffentlichte Beschluss (1 BvR 2284/23, 1 BvR 2285/23) des Ersten Senats stellte fest, dass die 2022 eingeführten Triage-Vorgaben mit dem Grundgesetz unvereinbar sindlto.de. Entscheidend war jedoch kein materielles Werturteil über diese Regeln, sondern eine formale Frage: Dem Bund fehlte die Gesetzgebungskompetenz. Triage-Regeln – also Vorschriften, wie bei knappen intensivmedizinischen Ressourcen die Zuteilung erfolgen soll – seien keine Maßnahmen der Seuchenbekämpfung, sondern betreffen die ärztliche Berufsausübung und Abläufe im Krankenhaus. Solche Themen fallen in die Zuständigkeit der Länder, nicht des Bundesrsw.beck.de. Damit war § 5c IfSG schon aus formellen Gründen verfassungswidrig, und das Gericht brauchte die inhaltliche Angemessenheit gar nicht mehr zu prüfenlto.de.
Hintergrund: Warum gab es § 5c IfSG?
Die Triage-Problematik rückte in der COVID-19-Pandemie ins öffentliche Bewusstsein. In extremen Notlagen – etwa überfüllten Intensivstationen – müssen Ärzte unter Umständen entscheiden, welcher Patient zuerst behandelt wird, wenn nicht für alle gleichzeitig Ressourcen da sind. Solche Szenarien waren vor 2020 in Deutschland kaum vorstellbar; waren allerdings das Bild, welches während der Pandemie gezeichnet wurden.
In Deutschland gab es zunächst nur medizinische Leitlinien der Fachgesellschaften als Orientierung. Doch Menschen mit Behinderungen und andere vulnerablen Gruppen fürchteten, bei einer Priorisierung aufgrund geringerer Erfolgsaussichten benachteiligt zu werdenrsw.beck.de. Sie zogen vors Bundesverfassungsgericht – mit Erfolg. Im Jahr 2021 verpflichtete Karlsruhe den Gesetzgeber, Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen in Triage-Situationen zu treffen. Daraufhin verabschiedete der Bundestag (unter der Ampel-Koalition) im Dezember 2022 den neuen § 5c IfSG. Diese Norm enthielt einen ausführlichen Kriterienkatalog und Verfahrensregeln für den Fall pandemiebedingter Engpässe. Zentral war der Satz: „Niemand darf bei einer Zuteilungsentscheidung benachteiligt werden, insbesondere nicht wegen Behinderung, Gebrechlichkeit, Alter usw.“ Außerdem wurde die Ex-post-Triage ausdrücklich verboten – also das Beenden einer begonnenen Behandlung zugunsten eines anderen Patienten mit besseren Überlebenschancen.
Das BVerfG-Urteil vom 23. September 2025
Gegen diese neue Triage-Regel regte sich bald Widerstand von ärztlicher Seite. Viele Mediziner fühlten sich in ihrer Therapiefreiheit zu stark eingeengt. Im Dezember 2023 reichten 14 Notfall- und Intensivmediziner Verfassungsbeschwerden ein, unterstützt vom Marburger Bund (größter Ärzteverband) und der Bundesärztekammer. Sie monierten fachliche Widersprüche und unpraktikable Vorgaben: z.B. dass das Verbot, Gebrechlichkeit als Kriterium zu berücksichtigen, dem Prinzip der “aktuellen Überlebenswahrscheinlichkeit” zuwiderlaufe. Vor allem aber sahen sie ihr Berufsethos verletzt. Das Verbot der Ex-post-Triage nehme ihnen die Möglichkeit, in einer Extremsituation die größtmögliche Zahl von Menschenleben zu retten – so die Kritik. Kurz gesagt: Die Ärzte wollten mehr Entscheidungsspielraum und vertrauen auf ihr Gewissen statt auf starre Vorgaben.
Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Ärzten nun Recht gegeben – allerdings aus anderen Gründen. In dem Beschluss vom 23.09.2025 heißt es: Die Triage-Regelung greift zwar in die Berufsausübungsfreiheit der Ärzte einlto.de, doch ein solcher Grundrechtseingriff könnte prinzipiell gerechtfertigt sein, wenn eine verfassungsgemäße Gesetzgebungsgrundlage vorliegt. Genau daran hapert es hier: Der Bund hat schlicht keine Befugnis, solche Regeln zu erlassen. Die im Grundgesetz vorgesehene Bundeskompetenz für “Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten” (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG) greift nicht, denn das Triage-Gesetz dient nicht der Bekämpfung einer Krankheit oder ihrer Ausbreitungrsw.beck.de. Triage-Regeln reagieren nur auf die Folgen einer Pandemie (Überlastung des Gesundheitswesens), sind also Pandemiefolgen-Regelungen und betreffen das Berufsrecht der Ärzte. Fragen zu medizinischen Behandlungsabläufen unterliegen der Gesetzgebung der Länder. Auch auf die Kompetenz des Bundes für das „öffentliche Fürsorgewesen“ ließ sich § 5c IfSG nicht stützen, da primär berufliche und verfahrensorganisatorische Aspekte geregelt wurdenbundesverfassungsgericht.de. Folglich war die Bundesregelung formell verfassungswidrig – sie hätte von den Ländern erlassen werden müssen. Das Gericht erklärte § 5c IfSG daher komplett für nichtig.
Wichtig: Inhaltlich hat Karlsruhe keine Aussage dazu getroffen, ob die Triage-Kriterien oder das Ex-post-Triage-Verbot an sich verfassungsgemäß oder problematisch sind. Diese Fragen bleiben vorerst offen – eben weil schon der formelle Fehler zur Nichtigkeit führte. Das Urteil erging übrigens mit 6:2 Stimmen im Senat; zwei Richter waren anderer Meinung, verzichteten aber auf ein Sondervotumlto.de.
Reaktionen: Ärzte jubeln, Patientenschützer mahnen
Die Entscheidung wurde von Ärzteverbänden begrüßt. Der Marburger Bund feierte den Karlsruher Beschluss als „höchst bedeutsam für die gesamte Ärzteschaft“. MB-Vorsitzende Dr. Susanne Johna erklärte, das Urteil stelle klar, dass ärztliches Handeln nicht durch unzulässige staatliche Vorgaben beschränkt werden darf. Zur Berufsfreiheit gehöre die Verantwortung, auch in Dilemmasituationen nach fachlichem Wissen und Gewissen zu entscheidenpresseportal.de. Die Gewissens- und Therapiefreiheit der Ärzte bilde eine Grenze für staatliche Regulierung. In diesem Tenor sieht der Marburger Bund die Grundrechte der Ärzte gestärkt und mehr Rechtssicherheit für Krisenlagen geschaffen. Allerdings wurde genau das vom Gericht nicht entschieden.
Auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz nahm Stellung – allerdings mit einem anderen Fokus. Eugen Brysch, Vorstand der Stiftung, betonte zustimmend, dass Triage-Entscheidungen keine reinen Gewissensentscheidungen der Ärzte seien. Er relativierte den „Erfolg“ der Beschwerdeführer dahingehend, dass das Gesetz nur aus Kompetenzgründen verworfen wurde. Entscheidend sei, dass auch nach diesem Urteil Grenzen für die ärztliche Freiheit bestehen: “Die Verfassung verbietet weiterhin, dass Alter, Pflegebedürftigkeit und Behinderung allein für die Aufnahme oder den Abbruch einer Behandlung maßgeblich sind.” Unabhängig von speziellen Triage-Gesetzen gilt das Diskriminierungsverbot aus dem Grundgesetz. Niemand darf wegen einer Behinderung benachteiligt werden – weder bei der Zuteilung eines Beatmungsplatzes noch sonst im medizinischen Alltag. Mit letzterem hat er natürlich recht. Aber für mich ist nicht klar, ob und wann man in größerer Anzahl beobachten konnte, dass diese Grundsätze verletzt wurden.
Darüber hinaus löste das Karlsruher Urteil umgehend politische Diskussionen aus. Gesundheitsministeriumsvertreter kündigten Gespräche mit den Ländern an, um zügig eine Folgeregelung auf den Weg zu bringen. Einige Beobachter regen an, eine einheitliche Lösung über eine Grundgesetzänderung zu ermöglichen – denn 16 unterschiedliche Landes-Triagegesetze könnten zu Uneinheitlichkeit führen: Sollte es wirklich darauf ankommen, in welchem Bundesland man ins Krankenhaus kommt, um zu wissen, wie im Notfall entschieden wird? Andere halten dagegen, ein föderaler Flickenteppich sei in Kauf zu nehmen, solange die Länder zumindest nach gemeinsamen Leitlinien handeln. Die Forderung aus 2021, behinderte Menschen in Triage-Situationen vor Diskriminierung zu schützen, besteht jedenfalls aufgrund der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts fort und richtet sich nun unmissverständlich an die Länder. Allerdings ist unklar, welcher Regelungsbedarf besteht.
Offene Fragen, die niemand stellt
Interessant ist, welche Fragen in der öffentlichen Debatte nicht gestellt wurden. Die Diskussion drehte sich vor allem um Zuständigkeiten und juristische Feinheiten – doch einige grundlegende Punkte bleiben unbeantwortet:
Müssen in Deutschland behinderte Menschen tatsächlich Angst haben, im Falle knapper Ressourcen von Ärzten benachteiligt zu werden? Gab oder gibt es konkrete Fälle, in denen einem Menschen allein wegen seiner Behinderung eine Behandlung verwehrt wurde, damit ein nicht-behinderter Patient behandelt werden konnte? Das ganze Regelungsbedürfnis sollte sich doch an der Realität orientieren. Wenn es solche Fälle nie und oder ganz selten gab, wäre zu fragen, ob die bestehende ärztliche Ethik nicht bereits ausreichend Schutz bietet.
Warum war es überhaupt nötig, detaillierte Triage-Gesetze zu erlassen? Reichen nicht die allgemeinen gesetzlichen Vorgaben, wie im Fall der Fälle eine Triage zu behandeln ist, aus? Schließlich galt bisher: Ärztinnen und Ärzte entscheiden im Rahmen ihres Gewissens und der medizinischen Indikation, ohne dass der Gesetzgeber jedes Detail vorschreibt.
Warum mussten wir das Wort “Triage” bis vor wenigen Jahren (vor 2020) in Deutschland kaum kennen? Liegt das Problem vielleicht weniger in fehlenden Gesetzen als in der Gesundheitsversorgung selbst? Ein gut aufgestelltes Gesundheitssystem sollte Engpässe möglichst verhindern, sodass die Frage “wer bekommt das letzte Bett” gar nicht erst akut wird. Warum wird nicht darüber diskutiert, dass noch während der Pandemie Krankenhausbetten, auch Intensiv-Betten reduziert wurden?
Ist es nicht ebenfalls eine Form von Triage, wenn Menschen sterben, weil sie nicht rechtzeitig einen Arzt oder ein Krankenhaus erreichen? Während intensiv über die Verteilregeln in einer Pandemie diskutiert wurde, sterben nach wie vor Patienten – vor allem Ältere oder Menschen mit Behinderung – weil nicht rechtzeitig einen Termin bei einem Arzt oder einen Platz in einem Krankgenhaus bekommen. Diese vorsätzlich geschaffene Notlage sollte im Zusammenhang mit einer neuen Triage-Regelung diskutiert werden, weil der Staat den Bürgern Fürsorge schuldet und nicht in erster Linie Regeln, wie man mit Notsituationen umgeht, die auf mangelnder Fürsorge beruhen.
Diese Fragen zeigen: Die eigentliche Herausforderung liegt jenseits juristischer Kompetenzgerangel. Sie betrifft das Vertrauen in die Ärzteschaft, die Ausstattung unseres Gesundheitssystems und den Schutz benachteiligter Gruppen im Ernstfall.
Fazit und Ausblick
Mit seinem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht die Politik gewissermaßen auf den Boden der Zuständigkeitsordnung zurückgeholt. Die Ampel-Koalition hatte 2022 in guter Absicht – Schutz vor Diskriminierung – gehandelt, dabei jedoch eine verfassungsrechtliche Grenze überschritten. Gut gemeint ist eben nicht immer gut gemacht. Moralischer Eifer ersetzt nicht die Beachtung des Rechts. Karlsruhe hat klargestellt: Selbst für noch so wichtige Ziele (hier: Gleichbehandlung in lebensbedrohlichen Lagen) darf der Bund nur Gesetze machen, wo das Grundgesetz ihm die Kompetenz gibt. Alles andere ist – so hart es klingt – verfassungswidrig, auch wenn es gut gemeint warrsw.beck.de.
Allerdings hat sich das Gericht inhaltlich nicht zur Richtigkeit der kassierten Regeln geäußert. Man könnte sagen, Karlsruhe hat es sich einfach gemacht und nur auf die formale Ebene abgestellt. In meinem persönlichen Eindruck hat der Senat die Chance verpasst, zumindest in einem Obiter Dictum Hinweise zu geben, wie es die umstrittenen Regelungen inhaltlich bewertet hätte, wären sie vom zuständigen Gesetzgeber (den Ländern) erlassen worden. So bleibt offen, ob der strenge Kriterienkatalog oder das Verbot der Ex-post-Triage an sich mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen wären. Diese Antwort wird möglicherweise in Zukunft nachgereicht – nämlich dann, wenn ein neues Triage-Gesetz auf Landesebene oder eine Grundgesetzänderung erneut in Karlsruhe überprüft werden. Triage III sozusagen.
Dieses Urteil wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet. Wie sehen Sie das?
