KRIEG MIT RUSSLAND
Konfliktanalyse eines Rechtsanwalts & Mediators
Krieg, Sicherheit, Zeitenwende –
Wie geht man mit einem Konflikt um?
Der Ukraine-Krieg, der Gaza-Krieg, der Konflikt zwischen Israel und Iran und die zunehmenden Spannungen zwischen USA, Russland, China und anderen Staaten erzeugen den Eindruck, dass die Welt unsicherer geworden ist. Dieses Gefühl ist in Europa, insbesondere in Deutschland, besonders ausgeprägt – nicht zuletzt, weil die Frage, ob wir bereits Kriegspartei gegenüber Russland sind, kaum noch eindeutig beantwortet werden kann.
In der politischen Debatte dominieren Schlagworte: „Zeitenwende“, „Freiheit wird in der Ukraine verteidigt“, „Russland ruinieren“, „Putin darf nicht gewinnen“. Was fehlt, sind nüchterne Überlegungen aus Konfliktforschung, Mediation und Verhandlungspsychologie. Genau diese Perspektiven bringe ich im Video – und in diesem Beitrag – ein.
Ich stehe Waffenlieferungen kritisch gegenüber. Nicht, weil ich Illusionen über das russische Vorgehen hätte, sondern weil ich der Überzeugung bin, dass einseitige Eskalation ohne ernsthafte Verhandlungskonzepte gefährlich ist – für die Ukraine, für Europa und für uns in Deutschland.
1. Kompetitiv oder kooperativ – Draufhauen oder verhandeln?
Jeder Konflikt lässt sich grob auf zwei Arten angehen: kompetitiv (Kampf, Durchsetzung, „Draufhauen“) oder kooperativ (Verhandlung, Verständigung, Interessenabgleich). In der anwaltlichen Beratung ist diese Grundentscheidung zentral: Gehen wir vor Gericht oder suchen wir ein Verhandlungsergebnis?
Als Russland im Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte, wurde diese Frage in Deutschland politisch kaum gestellt. Die Entscheidung für Waffenlieferungen – die berühmte „Zeitenwende“ – fiel, ohne dass öffentlich diskutiert wurde, ob es auch eine konsequent kooperative Strategie gegeben hätte: etwa mit massiven diplomatischen Bemühungen, klar definierten Verhandlungsbedingungen, aktiver europäischer Vermittlung.
Mein Video knüpft an den Blogartikel „KOMPETITIV ODER KOOPERATIV“ an, in dem ich diese Grundentscheidung an einem Beispiel aus dem Strafrecht erläutere:
👉 https://www.ra-th.de/blog/kompetitivoderkooperativ hans theisen | rechtsanwalt
2. Positionen, Interessen, Bedürfnisse
Konfliktforscher unterscheiden zwischen Positionen, Interessen und Bedürfnissen:
Positionen sind Forderungen (Der andere soll etwas tun oder unterlassen).
Dahinter stehen Interessen (Der Grund, warum man das Tun oder Unterlassen fordert).
Und dahinter wiederum menschliche Bedürfnisse (Das ist das Fundament, auf dem die Interessen gründen: Sicherheit, Geborgenheit usw.).
Im öffentlichen Diskurs wird fast ausschließlich über Positionen gestritten. So gibt es keine offene Diskussion darüber
welches Interesse die Ukraine an einem NATO-Beitritt hatte
welches Interesse Russlands dazu führte, dass dieses den NATO-Beitritt um jeden Preis verhindern will und schließlich
welche eigenen Interessen Deutschlands dabei eine Rolle spielen sollten.
Wer tiefer in diese Unterscheidung einsteigen will, findet in meinem Beitrag „POSITIONEN VS. INTERESSEN“ das bekannte Zitronen-Beispiel:
👉 https://www.ra-th.de/blog/positionenundinteressen hans theisen | rechtsanwalt
3. BATNA, WATNA, ZOPA – verpasste Chancen in Istanbul?
Aus der Verhandlungstheorie stammen die Begriffe BATNA (Best Alternative to a Negotiated Agreement), WATNA (Worst Alternative) und ZOPA (Zone of Possible Agreement). Diese Werkzeuge dienen dazu, Verhandlungen realistisch vorzubereiten:
ZOPA – Wo hätte es 2022 möglicherweise eine Einigung geben können?
BATNA – Was wäre die beste Alternative zu einem Verhandlungsergebnis?
WATNA – Was ist das schlechteste plausible Szenario, wenn man nicht verhandelt?
Im April 2022 waren Russland und die Ukraine mit Verhandlungen in Istanbul seit weit vorangekommen. Die Ukraine sollte neutral bleiben, der Donbass weitgehende Autonomie bekommen, es wurden Sicherheitsgarantien besprochen und der Status Quo für die Krim festgeschrieben. Egal ob man nun davon ausgeht, ob die Istanbuler Verhandlungen schon kurz vor dem Abschluss waren oder noch einiges zu klären gewesen wäre - das, was darüber bekannt geworden ist, ist jedenfalls die Zone of possible Agreement gewesen.
Statt dieses mögliche Ergebnis anzustreben, hatte sich der Westen – vor allem die USA und Großbritannien – dafür entschieden, die unterschiedlichen Positionen kompetitiv auszutragen, weil man offensichtlich davon ausging, dass die Ukraine (mit westlichen Waffen) Russland zum Einlenken zwingen könnte. Sicher ist jedenfalls, dass es von Seiten der Bundesrepublik und/oder der EU keinen Versuch gab, auf Russland und die Ukraine einzuwirken, die Gespräche in Istanbul zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen.
Welche Überlegungen hätte man - bevor man sich entscheidet, nicht einen Abschluss der Istanbuler Gespräche zu fördern - im März/April anstellen müssen:
WATNA
Aus der damaligen Sicht war das schlechteste Ergebnis, das zu besorgen war, wenn der Krieg weitergeht:
Russland gewinnt. Der rohstoffreiche Osten des Landes geht ganz an Russland, vielleicht sogar Odessa und damit würde die Ukraine den Zugang zum Schwarzen Meer verlieren. Mit diesem Ergebnis rechnen jetzt eine ganze Reihe kluger Köpfe für eine nicht sehr ferne Zukunft.
Noch schlimmer wäre natürlich das Ergebnis, wenn der Krieg sich zu einem europäischen Krieg ausweitet und europäische Großstädte mit russischen Raketen Bekanntschaft machen.
BATNA
Das beste zu erzielende Ergebnis kann dann nur sein:
Die Ukraine gewinnt. Russland verliert. Putin wird entmachtet. Russland zerfällt.
Und die Geostrategen in den USA haben genau das Ziel seit ca. 20 Jahren angepeilt. Diese Zielsetzung wurde von Deutschland übernommen. Russland ruinieren, Russland mit Sanktionen in niederringen, die Ukraine muss sich im Krieg behaupten und Putin muss weg.
Was soll das für ein Ziel sein? Was hätten wir davon? Russische Oligarchen als Warlords mit Zugriff auf Atomwaffen? Warlords, denen der Westen ihre Spielzeuge (Yachten) gestohlen hat, sollen dann künftig die sein, mit denen wir besser auskommen können?
4. Das Stufenmodell nach Friedrich Glasl
Der Konfliktforscher Friedrich Glasl beschreibt neun Stufen der Eskalation – von der ersten Verhärtung bis zur Stufe „Gemeinsam in den Abgrund“. Mit jeder Stufe werden konstruktive Lösungen schwieriger.
Schaut man auf die Entwicklung seit 2022, drängt sich der Eindruck auf, dass wir uns schrittweise in Richtung der Lose-Lose-Stufen bewegen:
immer schwerere Waffen,
immer direktere Beteiligung westlicher Staaten,
immer lautere Forderungen, den Krieg „nach Russland zu tragen“,
und gleichzeitig immer weniger politische Energie für ernsthafte Verhandlungsinitiativen.
5. Das Nachrichtenquadrat
Wenn wir über Krieg, Frieden und Sicherheit diskutieren, geraten wir schnell in emotionale Schützengräben. Das Nachrichtenquadrat von Schulz von Thun (Sachebene, Appell, Beziehung, Selbstoffenbarung) hilft zu verstehen, warum: Jede Botschaft hat mindestens vier Ebenen, und der Empfänger entscheidet, was bei ihm ankommt. schulz-von-thun.de+1
Im Video plädiere ich dafür, dass wir uns über diese Themen streiten
möglichst auf der Sachebene zu bleiben,
und bewusst mit dem „Sachohr“ zuzuhören, selbst wenn der andere sich im Ton vergreift.
Warum ich gegen Waffenlieferungen bin
Ich bin überhaupt gegen Waffen. Ich bin für Abrüstung. Dass Trump in seiner ersten Amtszeit damit begonnen hat, Rüstungsbegrenzungsverträge aufzukündigen, war nicht gut, dass das Wettrüsten wieder losgeht ist schlimm. Und der Jahrzehnte geübte richtige Satz, dass Waffen nicht in Kriegsgebiete geliefert werden sollen, sollte wieder eine Selbstverständlichkeit werden.
Meine Kritik richtet sich vor allem gegen drei Punkte:
Fehlende Interessenklärung
Deutsche Interessen wurden vor allem über Parolen („unsere Freiheit wird in der Ukraine verteidigt“) definiert, nicht über eine nüchterne Abwägung von Risiken, Nutzen und Alternativen – weder sicherheitspolitisch noch wirtschaftlich.Vernachlässigte Verhandlungschancen
Die frühen Verhandlungen 2022 in Istanbul zeigen, dass es zumindest eine realistische Chance auf ein Zwischenabkommen gab. Dass dieser Weg nicht mit der gleichen Entschlossenheit verfolgt wurde wie Waffenlieferungen, istEskalationsrisiko für Europa
Mit jeder weiteren Stufe der Eskalation steigen die Risiken für Europa – bis hin zu Szenarien, in denen unser Land selbst zum Kriegsschauplatz wird. Vor diesem Hintergrund ist der leichtfertige Umgang mit Begriffen wie „Kriegstüchtigkeit“ oder „Krieg nach Russland tragen“ aus meiner Sicht verantwortungslos.
Weiterführende Links
Eigene Blogbeiträge zur Konfliktforschung:
Kompetitiv oder kooperativ?
https://www.ra-th.de/blog/kompetitivoderkooperativPositionen vs. Interessen
https://www.ra-th.de/blog/positionenundinteressenBATNA – WATNA – ZOPA
https://www.ra-th.de/blog/batna-watna-zopaDas Phasenmodell der Eskalation
https://www.ra-th.de/blog/konflikteskalationsmodellDas Nachrichtenquadrat
https://www.ra-th.de/blog/das-nachrichtenquadrat
Externe Hintergründe:
Überblick zu den Friedensverhandlungen im Ukrainekrieg:
https://en.wikipedia.org/wiki/Peace_negotiations_in_the_Russo-Ukrainian_war_(2022–present) WikipediaAnalyse der SWP zum Istanbul-Kommuniqué:
https://www.swp-berlin.org/10.18449/2022C65/ Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)Kurze Darstellung der 9 Eskalationsstufen nach Glasl:
https://dieprojektmanager.com/konflikteskalation-nach-friedrich-glasl/ dieprojektmanagerSchulz von Thun – Kommunikationsquadrat und Vier-Ohren-Modell:
https://www.schulz-von-thun.de/die-modelle/das-kommunikationsquadrat schulz-von-thun.de
Einladung zur Diskussion
Wenn Ihnen meine Überlegungen gegen den Strich gehen, würde ich mich freuen, wenn Sie die Kritik auf der Sachebene formulieren – gern im Kommentarbereich unter dem Video oder direkt hier im Blog.
Ich freue mich natürlich auch über zustimmende Kommentare – vor allem aber über Beiträge, die helfen, aus der Logik „mehr Waffen oder Kapitulation“ auszubrechen und wieder über Frieden als Verhandlungsaufgabe zu sprechen.
